Was ist eigentlich Chrome?

Mal wieder ein neuer Chrome. „So what?“ werden sich die meisten sagen und genau das hat Methode. Wenn man sich die kleinen Änderungen und Erweiterungen mal ansieht, erkennt man unschwer wohin die Reise mal gehen soll, was allerdings spätestens seit den Chrome Books und ChromeOS wohl kein Geheimnis mehr sein sollte.

Mit Chrome unternimmt Google nichts Geringeres, als den Versuch einen Kompatibitäslayer zwischen Anwendung und System einzufügen, so dass Anwendungen völlig unabhängig von der Hardwarearchitektur und dem Betriebssystem ausgeführt werden können und Look&Feel erhalten bleiben. Jetzt wird sich der ein oder Andere, sicher denken:

Das gab schon mal? Was ist mit Java?
Der Unterschied? Google macht es vermutlich diesmal richtig.

Das größte Kapital der Firma Microsoft ist z.B. die Trägheit und die Unbeweglichkeit ihrer Userbasis. Genau diese ist aber in den heutigen Zeiten des Wandels auch ihr größter Fluch. Keine Firma die einen Umbruch in der Technologie anstrebt, kann sich gleichzeitig einen Bruch in der User Experience leisten. Genau diesen Bruch hat es bisher jedes Mal gegeben, wenn versucht wurde, Plattformübergreifende Anwendungen zu ermöglichen. Ich denke da zum Beispiel an den unsäglichen JavaWebStart, der von mir beim ersten erscheinen des Icons auf dem (damals noch Windows) Desktop, sofort wieder deinstalliert wurde. Er brachte mir keinen Nutzen und wurde deshalb auch niemals beachtet. Dabei war das, was er hätte werden können, eigentlich exakt das Selbe, was der Chrome jetzt wird.

Wieso aber scheint Google mit exakt dem gleichen Ziel plötzlich Erfolg zu haben? Die Antwort ist verblüffend einfach:

Weil es niemand mitbekommt.

Chrome entwickelt sich einfach langsam aber stetig in diese Richtung weiter ohne dabei irgendjemandem etwas aufzwingen zu wollen. Dabei wird peinlichst genau darauf geachtet, die Entwicklercommunity mitzunehmen und einen Fokus auf die Funktionen zu legen, die zwar auch in die gewünschte Richtung gehen, aber von der Entwicklerbasis schon lange gefordert werden.
Da ist als Beispiel die File API zu nennen. Wer mal versucht hat mit minimalen Methoden, d.h. ohne PHP oder extra Tools einen Fileupload zu realisieren und damit meine ich zu Zeiten, als dies nur über Multipart MIME in einem Webformular möglich war, der dürfte diese API genauso lobpreisen, wie ich.

Sie ist natürlich keine Entwicklung ausschließlich aus dem Hause Google und in so ziemlich jedem halbwegs aktuellen Browser verbaut, aber dennoch einer der Pflastersteine in die gewünschte Richtung.
Google hat es auf diesem Weg auf fast unfaire Art und Weise einfacher als Microsoft, die gerade versuchen den Umgekehrten Weg vom Desktopsystem in die viel beschwohrene Cloud und die mobile Welt zu gehen.

Chrome kann eine bekannte Welt, das Lool&Feel des Webs mitnehmen. Der heutige Webuser ist die kontinuierliche Weiterentwicklung der Dienste gewöhnt, die meist in kleinen Schritten unbemerkt, aber auch mal mit unschönen Stolpersteinen vorranschreitet. Diese Bewegung ist im Gegensatz zur Desktopsoftware unvermeidlich und nimmt so auch den konservativsten Gewohnheitsuser mit. Er kann einfach nicht mehr das Facebook von 2008 verwenden.

Hier liegen die großen Probleme mit denen sich Microsoft momentan auseinandersetzen muss. Sie waren es viel zu lange gewöhnt, Standards einfach brechen zu können und andere, durch schiere Macht auf dem Markt, auf ihren Weg zu zwingen. Heute ernten sie dafür nicht mal mehr ein müdes Lächeln. Das Web verabschiedet sich, nicht ohne Zwang, der diesmal allerdings von Apple kam, von Adobe Flash und setzt auf reines HTML5 – Microsoft entwickelt mit Silverlight einen Flashnachfolger, den niemand mehr braucht.

Auch der Versuch das mobile Parkett zu betreten, scheiterte bis jetzt im wesentlichen an zwei Fehlern die Google mit dem Chrome nicht macht.
Da wäre als erstes die Entwicklerbasis zu nennen. Es reicht eben nicht aus, ein Produkt auf den Markt zu werfen, ohne die Entwickler abzuholen. Mit Software die zum größten Teil aus Produkten des eigenen Hauses besteht, erreicht man heutzutage keine Breite mehr, die dem Endkunden ausreicht.
Beispielhaft dafür ist das fast nicht erwähnenswerte Scheitern des Surface Tablets. Ein von der Hardware her durchaus beachtliches Produkt, mit einem unverschämten Preis, der nur mit einer Breiten Softwarebasis und Service zu rechtfertigen wäre, wie sie von Apple geboten wird – und auch dort besteht ein großer Teil der Preisbildung nur aus der fiktiven Eintrittskarte in die High Society.
Welches Extra rechtfertigt das Surface und macht es attraktiv? Ich darf in Microsofts beengender Hauseigenen Sandkiste mit Niemandem spielen.

Ein vollwertig Desktopkompatibles Surface wird umgehend den zweiten Fehler machen und einen weiteren noch gratis dazu.

Der Desktopuser ist ein Gewohnheitstier. Er wünscht keine Änderungen und möchte gleiche Aufgaben immer nach dem gleichen Schema lösen. Selbst dann noch, wenn es für die Aufgabenstellung längst bessere Lösungen gibt. Nimmt man ihm seinen gewohnten Weg und ersetzt ihn durch einen viel effizienteren Weg, denn freiwillig würde er das nie versuchen, sieht er diese Verbesserung stattdessen als Verschlechterung.

So schleppt sich Windows mit Altlasten aus inzwischen zwei Jahrzehnten vor sich hin, bremst sich selbst und bringt mit einer Neuinstalltion schon über 10GB auf die Wage. Wo man Geschwindigkeit aber nicht unbegrenzt durch größere Hardware kaufen kann, weil dieser Mangel an Effizienz am Ende immer auch mehr Strom bedeutet, geht diese Altlast plötzlich auf Kosten der Laufzeit. Der Endanwender sieht den Fehler aber nicht in seiner eigenen Trägheit, sondern in einem angeblich schlechten Produkt, das seine Wünsche nicht erfüllt.
Wie aber soll sich ein mobiles Windows durchsetzen, wenn schon die erste Reaktion auf Windows8 eine Flut von „so bekommen sie ihren Startknopf / Desktop zurück“ Artikeln war.

Genau diese Trägheit hat letztendlich auch die gute Idee hinter Java kaputt gemacht. Das generische UI ließ sich nicht eins zu eins in native UIs übersetzen und es musste ein generisches Javasytle UI her. Wir erinnern uns an Swing und was darauf folgte. Wieder kam es zu einem Bruch in alltäglichen Aufgaben. Der Mehrwert von plattformunabhängigen Anwendungen konnte nicht vermittelt werden. So das der Nutzer keinen Sinn darin sah, seine Alltäglichen Gewohnheiten auf zu geben.

Es ist noch nicht lange her, da wurden Anbieter dafür verhöhnt, ihre Software erst beim Nutzer ausreichend zu Testen und fern zu warten, anstatt von Anfang an ein angeblich perfektes Produkt aus zu liefern.
Die Zeit zeigt uns aber eher, dass Nutzer durchaus ein paar kleine Probleme verzeiht, wenn er dadurch frühzeitig an deutlichen Verbesserungen teilhaben kann.

So verlockend es auch sein Mag den Nutzer durch Stagnation, auf einem ehemals guten Niveau, durch seine Gewohnheit zu binden, diese Strategie funktioniert nur für einen Monopolisten. In einer Konkurrenzsituation tut sich dadurch ein Graben auf, den man irgendwann selbst nicht mehr überbrücken kann, weil immer ein nicht zu vernachlässigender Teil der Nutzer nach diversen Kleinigkeiten verlangen wird, die man auf der „alten“ Seite hinter sich lassen müsste. Ist erst einmal ein Graben da, gibt es unweigerlich zwei Seiten.

Geht man stattdessen behutsam, in kleinen Schritten weiter, kann man einen Großteil der Nutzer mitnehmen und vermeidet unliebsame Altlasten, die man niemals entfernen darf, weil man sonst die an sie gebundenen Nutzer verlieren würde.
So hat Google beste Voraussetzungen dafür, zu ganz nebenbei, mit ihrer Variante von Javascript und einem Browser das zu schaffen, wofür schon Sprachen geplant, entwickelt und finanziert wurden und trotz allen Hypes doch wieder nur in einer Nische verschwanden.

Ob sie das schaffen werden – man darf gespannt sein.

Wenn sie es schaffen, dann werden künftige Betriebssysteme vermutlich – wieder – nur die Hardware verwalten und Schnittstellen für die Anwendungssoftware bereitstellen. Damit wären wir dann einem Punkt, wo wir schon vor zehn Jahren hätten sein können, wenn man vermieden hätte, sich abgeschottete, monopolistische Ökosysteme zu bauen. Diese dienten nur dem Zweck, den Innovationsdruck zu mindern. Niemand wechselt ein Betriebssystem, weil drei Programme besser sind und man dafür seine ganze gewohnte Arbeitsumgebung aufgibt.

Sind in einigen Jahren aber fast alle aktuellen Programme auf allen Systemen lauffähig, wird es die bisher gewohnte Marktverzerrung, dass es einige gute Programme nur für ein schlechtes Betriebssystem (oder wahlweise auch umgekehrt) gibt, nicht mehr geben.

Möge der bessere gewinnen.

tldr: Es ist nur ein Browser.